Dem Trend zum Trotz: Dessau gibt Leichtathleten eine Chance
4 Juni 2013In Deutschland sterben mehr und mehr Sportfeste, erst die großen, jetzt auch kleine — aber das Anhalt-Meeting weiß sich zu behaupten
Steffen Uliczka attackiert kurz vor dem Wassergraben. Er zieht an dem jungen Kenianer Clement Kemboi vorbei, überspringt das Hindernis als Erster und biegt auf die Zielgerade ein. Der Fernsehmoderator schreit begeistert ins Mikrofon, und die Zuschauer auf der Tribüne springen von ihren Sitzen. Tatsächlich: Der blonde Läufer mit Sommersprossen und Stoppelhaar stürzt unter dem Jubel des Publikums und im von Nebelschwaden durchzogenen Flutlicht nach 3000 Meter Hindernislauf als Sieger ins Ziel. Der Mann vom Fernsehen springt auf ihn zu, und nachdem der Sieger vor der Tribüne getanzt und gewunken hat, lässt er seiner Freude auch verbal freien Lauf. „Toll, hier kennt man Leichtathletik noch”, ruft er. „Danke!”
Willkommen in einem der letzten Reservate des olympischen Kernsports, willkommen beim Leichtathletik-Sportfest Dessau. Mindestens ebenso wie über seinen Sieg in 8:26,27 Minuten, rund drei Sekunden über der Norm für die WM, freute sich Uliczka am Freitag über die Zuschauer. „Schön, wie sie alle unter der überdachten Tribüne zusammengekommen sind”, lobte er, „perfekt, dass der Veranstalter auf der Gegentribüne Sonnenschirme aufgestellt hat.” Ein Wolkenbruch war in leichten Nieselregen übergegangen, und knapp 4000 Besucher drängten sich auf den trockenen Plätzen des Dessauer Stadions. Bei Sonne und Fußball kommen schon mal 20 000. Der Mann vom Fernsehen war ohne Kamera da. ZDF-Reporter Wolf-Dieter Poschmann kommentierte die Veranstaltung in seiner Freizeit.
Selbst ohne Schlechtwetterfront stehen Leichtathleten in Deutschland manchmal wie begossene Pudel da. Erst starben die großen Sportfeste aus, nun geht der Tod bei den kleinen um. Köln und Nürnberg, Stuttgart und München spielen auf der Landkarte der Leichtathletik schon lange keine Rolle mehr. In diesem Jahr sind nun Cottbus und Königs Wusterhausen, Kassel, Biberach und Cuxhaven untergegangen, und auch Spezial-Events wie das Kugelstoß-Festival in Nordhausen, das Wurf- Meeting in St. Wendel und das Stabhochspringen in Karlsruhe gibt es nicht mehr. „Es ist aller Ehren wert, wie sich die Athle,- ten den widrigen Bedingungen entgegenstemmen”, rief Poschmann, und er schien nicht nur vom Wetter zu sprechen. Nur noch drei internationale Sportfeste gibt es in Deutschland. Beim ersten, an Pfingsten in Rehlingen ausgetragen, habe es nicht einmal mehr Abendbrot für die Athleten gegeben, berichtete Carsten Schlangen; er habe ernste Befürchtungen. Der EM-Silbermedaillengewinner über 1500 Meter von Barcelona 2010 ist vom Niedergang persönlich betroffen. Nicht nur, dass mit den Sportfesten Start- und Qualifikationsmöglichkeiten schwinden. Veranstalter Heinz Hüsselmann, der Cuxhaven, Kassel und Biberach in den Sand setzte, hatte ihn als Läufer und Werbeträger verpflichtet — und bis heute nicht gezahlt.
Wenn Weitspringer Christian Reif Ende September beim Istaf antritt, wird auch er bei allen drei Voll-Sportfesten gestartet sein, die es in Deutschland noch gibt. Er weiß sie zu schätzen. „Ich bin auch hier, um die Veranstaltung zu unterstützen”,sagte er. Hätte nach dem Rückzug des Hauptsponsors 2012 nicht die Spielbank Berlin kurzfristig das Istaf im Berliner Olympiastadion vor dem Exitus gerettet, wäre Dessau nun Leichtathletik-Standort Nummer eins in Deutschland. Seit vierzehn Jahren findet hier das Anhalt-Meeting statt, mit Speerwerfen der besten Männer der Welt und Diskus der besten Frauen Deutschlands, mit Hoch-, Weit- und Dreisprung, Stabhochsprung, Sprint und Mittelstrecke. Der Dessauer Stabhochsprung-Abend im Winter wird als viertbeste Veranstaltung weltweit bewertet. „Die Athleten, die hier sind, hätten zehntausend Zuschauer verdient”, sagt Veranstalter Ralph Hirsch. „Die mediale Wahrnehmung geht gegen null — eine Schande!”
Nur Berlin hat ebenfalls zwei namhafte Leichtathletik-Veranstaltungen. Statt seiner traditionsreichen Gala, einem Sportfest, veranstaltet der Deutsche Leichtathletik-Verband seit wenigen Jahren ein Event für Hoch-, Weit- und Stabhochspringer am Brandenburger Tor. Die Idee von „Berlin fliegt”: Wenn die Leute nicht zur Leichtathletik kommen, kommt halt die Leichtathletik zu den Leuten.
Die Stabhochspringer haben mit ihren Marktplatzspringen vor dreißig Jahren damit angefangen. Ebenfalls die Läufer, die auf die Straße und in die Städte gegangen sind. „Man muss nicht klagen, sondern professionalisieren”, sagt Gerhard Janetzky. Vor zehn Jahren hat er das zahlungsunfähige Istaf übernommen; inzwischen ist er Präsident des Berliner Leichtathletik- Verbandes. Den Kern des Istaf hat er für die kurze Aufmerksamkeitsspanne von Fernsehzuschauern auf zweieinhalb Stunden konzentriert und mit 70 000 Besuchern so etwas wie einen Weltrekord aufgestellt. Sein Etat ist mit reichlich anderthalb Millionen Euro zehnmal so groß wie der von Dessau. Doch auch er spürt die Vergänglichkeit des Konzepts Sportfest. „Wenn die Zuschauer eine solche Veranstaltung nicht annehmen”, sagt er, „kann man nichts machen.” Andererseits sieht Janetzky so viel Potential, dass er das Sportfest in Kassel wiederbeleben wird. „Die Leichtathletik ist nicht gefährdet”, sagt er. „Aber für Athleten wird es immer schwieriger, sich zu profilieren.”
Carsten Schlangen ist es längst leid, Einladungen und seinem Geld hinterherzurennen. Vielleicht machten sich Läufer eines Tage unabhängig von der Bereitschaft der Veranstalter, Stars und Tempomacher zu verpflichten, sagt er, indem sie sich via Internet zu Veranstaltungen verabreden. In Dessau tauchte wie zur Bestätigung Arturo Casado auf, spanischer Europameister über 1500 Meter von 2010. Schlangen hatte ihm empfohlen, zu kommen. „Die große Breite der Leichtathletik macht die Leichtathletik schwach”, sagte er. „Und sie macht sie stark.”