Die deutschen Leichtathleten werden Zweite bei der Team-EM – doch das WM-Jahr hat seine Tücken
Stockholm/München — Carsten Schlangen hatte die Innenbahn, als es auf die letzte Runde ging im 1500-Meter-Rennen bei der Team-EM in Stockholm. Er lag an vierter Stelle, was nichts Schlechtes heißen musste für die Entscheidung im Kampf um die besten Plätze. Aber dann bogen die Läufer in die letzte Kurve, Carsten Schlangen hatte immer noch die Innenbahn, der Brite führte, der Pole und der Franzose rannten dahinter, und zwar so geschlossen, dass Schlangen nicht aus seiner Innenbahn herauskam. Von hinten preschte der Spanier heran, mit dem Russen im Gefolge, und Schlangen konnte nicht reagieren, so eingesperrt wie er war auf seiner verdammten Innenbahn. Er rannte, er kämpfte, er rettete Platz vier hinter dem Spanier Manuel Olmedo, dem Russen Valentin Smirnow und dem Briten James Shane. Neun Punkte fur die Mannschaft des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), immerhin, aber Carsten Schlangen konnte sich da schon denken, dass der ein oder andere ihm seine Renntaktik vorhalten würde. Carsten Schlangen, 30, aus Berlin ist schließlich nicht mehr irgendwer. Er ist der EM-Zweite von 2010.
Das DLV-Team hat sich wieder ziemlich ordentlich geschlagen bei der Team-EM. Platz zwei hinter Russland konnte man als gelungene Fortsetzung der letztjährigen EM-Kampagne lesen, als sich in Barcelona unter dem DLV-Logo vier Einzel-Europameister versammelten und insgesamt 16 Medaillengewinner. Allerdings ist diese Fortsetzung kein Selbstläufer, schon gar nicht in einem Jahr, in dem der Höhepunkt eine WM in Daegu/Südkorea ist. Im globalen Wettkampfbetrieb geht es etwas strenger zu als bei Kontinental-Meisterschaften, Leistungen, die im vergangenen Jahr noch in den Farben erlesener Edelmetalle glänzten, können in diesem Jahr schon wieder wie graues Mittelmaß wirken. Gerade der Mittelstreckler Schlangen kann davon berichten, wie der Jubel über eine seltene Errungenschaft sich ganz schnell wieder in den Weiten des Alltags verliert. Es gibt einige Athleten, die längst angeknüpft haben an ihre EM-Erfolge. Bei den Deutschen ist das vor allem Betty Heidler aus Frankfurt, deren EM-Gold in der europäischen Domäne Frauen-Hammerwurf nicht viel weniger wert war als ein WM-Titel und die in diesem Jahr richtig durchstartet: Den Weltrekord hat sie auf 79,42 Meter gestreckt, sie siegt und siegt und gehörte auch am Wochenende in Stockholm neben Speerwerferin Christina Obergföll (mit Weltjahresbestleistung von 66,22 Metern), dem 20-jährigen Kugelstoßer David Storl (20,81 Meter), der Kugelstoßerin Nadine Kleinert (17,81 am verregneten Sonntag), Diskus-Weltmeister Robert Harting (65,63) sowie Hammerwerfer Markus Esser (79,28) zu den deutschen Tagessiegern (73,43). International fällt Frankreichs Dreifach-Europameister Christophe Lemaitre auf, der in 9,95 Sekunden seinen nationalen 100-Meter-Rekord zum zweiten Mal 2011 verbesserte.
Auch Schlangen kann sagen, dass sein zweiter EM-Platz auf erfreuliche Weise nachwirkt: „Man ist ein bisschen lockerer. In Richtung Zuversicht, dass man so eine Norm erreichen kann.” So eine Norm — Schlangen meint damit den Qualifikationsstandard für die WM in Daegu Ende August, der für ihn mit EM-Silber um kein Tausendstel niedriger liegt als ohne. Es ist ein altes Thema, und möglicherweise wäre Schlangen einer der glücklichsten Läufer der Welt, wenn es sich mit seinem Barcelona-Erlebnis in Luft aufgelöst hätte. Aber das hat es natürlich nicht, und so absolviert er jetzt den aufreibenden Slalom zwischen WM-Formaufbau, Normen-Jagd und seinem Halbtagsjob in einem Architekturbüro. 3:35:00 Minuten muss er bis zum 14. August für die sichere WM-Qualifikation unterbieten, zwei Mal die B-Norm von 3:36,50 dürfte auch reichen, die er einmal schon geschafft hat, in seinem dritten Saisonrennen vor zwei Wochen in Rabat (3:36,14). Nach seinen 3:39,86 im taktischen Team-EM-Rennen hofft er nun beim Diamond-League-Meeting in Paris am 8. Juli auf ein zügiges Tempo, das er für seine Belange nutzen kann.
Es gehört zu den Tücken seines Läuferlebens, dass Wert und Umstände seiner Leistungen manchmal etwas untergehen. In Stockholm ist ihm nicht entgangen, „dass die Leute mäßig zufrieden waren” mit seinem vierten Platz. Obwohl er die Team-EM wegen der WM-Norm- Jagd „aus dem vollen Training raus” bestritt. Obwohl er sagen kann: „Ich bin schneller als letztes Jahr zu der Zeit.” Aber Schlangen klagt nicht. Die Kritik wegen seiner Stockholm-Taktik? Findet er „okay”. Er mag sich nur nicht von seinem Weg abbringen lassen. Er weiß, was er kann. Im vergangenen Jahr schaffte er die EM-Norm auch erst spät, und die Silber-Form, die er danach in Barcelona zeigte, hat er vielleicht noch nicht in seinen Beinen, aber in seiner Erinnerung hat er sie schon. Stockholm hat er deshalb am Sonntag ohne schwere Gedanken verlassen. Carsten Schlangen, der EM-Zweite, sagt: „Man lässt sich durch so ein Ergebnis wie vom Samstag nicht aus der Bahn werfen.”