Die Unentschiedenen

Die 68er fühlten sich rebellisch, die 78er bürgerbewegt, die Generation X von beidem gelangweilt. Die 20- bis 30-Jährigen von heute haben vor lauter Optionen den Überblick verloren.

Berlin Zeitung - Magazin - Die Unentschiedenen - Carsten Schlangen

Carsten Schlangen führt ein Doppelleben. Eines als Architekturstudent, eines als Leichtathlet. Vor einigen Wochen ist er Deutscher Meister über 1 500 Meter geworden. Ein paar Tage später hat er sich einen Prüfungs-Professor an der TU-Berlin gesucht, dann nahm er an der Weltmeisterschaft im Olympiastadion teil, jetzt hat er ein Semester Zeit für seine Diplomarbeit. Im März beginnt die Vorbereitung auf die EM in Barcelona.

Häppchenweise leben, nennt Schlangen das. Ein Dasein in mundgerechten Stückchen.

Deutschlands bester Mittelstreckenläufer sitzt in einem Café nahe der Kastanienallee in Prenzlauer Berg und stellt unter Beweis, wie viele Kalorien in seinen hageren Sportlerkörper passen: Croissants mit Vanillefüllung, Brotkorb mit Marmelade, Rühreier mit Speck. Nebenbei schiebt er sich hin und wieder einen frischen Beutel mit Kühlgel ins Hosenbein, weil er seit einigen Tagen nur unter Schmerzen trainiert. Er sagt, wer erfolgreich Sport treiben und gleichzeitig im Leben vorankommen will, der müsse lernen, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun: Frühstücken, Pressetermine, Physiotherapie.

Carsten Schlangen, 28, Single, Wahlberliner, hat erreicht, wovon viele träumen. Er war bei Olympia, er verdient sein Geld mit Sport. Er ist sogar ein bisschen berühmt. Wer aber länger mit ihm spricht, der hört Sätze wie diesen: “Es ist ja nicht so, dass mir das keinen Spaß macht.”

Schlangen will sich nicht beschweren, er denkt nur laut nach. Über das Tempo, mit dem er durch sein Leben hetzt. Und über dieses Lebensgefühl, dessen größter Feind die Entscheidung ist. “Wer sich für etwas entscheidet”, sagt Schlangen, “entscheidet sich eben auch gegen etwas anderes.”

Schlangen sagt, seine Eltern hätten noch in klaren Paketen gelebt: Schule, Ausbildung, Hochzeit, Beruf, Kinder, Hausbau, Ruhestand. Er dagegen gehört zu denen, die keine existenzielle Not kennen, keinen Krieg, nicht mal mehr den Kalten Krieg. Sie können so leben, wie sie es für richtig halten. Und genau das scheint der Kern des Problems zu sein.

“Unserer Generation”, sagt Carsten Schlangen, “geht es so schlecht, weil es ihr so gut geht.”

Es gibt ein paar Dinge, auf die können sich die meisten Menschen zwischen 25 und 35 Jahren einigen. Auf Obama, auf Facebook und darauf, dass sie deshalb noch lange keine homogene Generation sind. Andererseits machen die Twenty- und Thirtysomethings dieser Tage nichts lieber, als Romane, Blogs, Magazine und Sommerfilme zu konsumieren, die ihnen detailliert erklären, wie sie und ihre Gleichaltrigen so sind.

Der Spiegel hat sein Sonderheft zur Lage der Generation “Die Krisenkinder” genannt. Das liegt auf der Hand, weil es derzeit in der Welt ja nichts zu geben scheint, was sich nicht mit der Krise erklären lässt. Dabei war dieses Unbehagen, das junge Menschen heute umtreibt, längst da, bevor in New York die Nachwuchsbanker in Tränen ausbrachen. “Die Krise”, sagt Carsten Schlangen, “hat dieses Gefühl nur bestätigt.”

Das prägende Gefühl dieser Generation ist, dass es kein prägendes Gefühl mehr gibt. Die 68er fühlten sich rebellisch, die 78er bürgerbewegt, die Generation X war von all dem angekotzt. Die einen trugen Schlaghosen, die nächsten Karottenjeans, die dritten Holzfällerhemden. Erst kam Dylan, dann Zappa, dann Cobain. Die heutige Generation hat alle drei auf ihrem 120 Gigabyte I-Pod. Sie kann alles haben – und hat letztlich gar nichts. Sie hat vor lauter Optionen, Einstellungen und Stilrichtungen den Überblick verloren.

Für Carsten Schlangen stellt sich jetzt erst einmal die Frage, ob er noch ein Croissant oder noch ein Rührei nimmt. Schweigeminute. Er bestellt eine Cranberry-Schorle. Die nächste Entscheidung wird noch komplizierter: Für den Sport. Gegen den Sport. Für die Architektur. Gegen die Architektur. Oder wenigstens für einen Manager, der dieses komplizierte Dickicht aus Terminen und Aufgaben für ihn zurechtstutzt.

Schlangen will aber keinen Manager. Er sagt: “Lieber werde ich hin und wieder abgezockt, aber ich lerne dabei was fürs Leben.” Er verzichtet auch auf rund 2 000 Euro im Monat, die er bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr bekommen könnte. Er möchte kein Medaillensoldat sein.

Was möchte er dann sein? Ein Idealist?

Schlangen sagt, als seine Eltern dreißig waren, sei das noch ein Kompliment gewesen.

Aus seiner Sicht war das Leben damals viel einfacher. Ein Sportler war ein Sportler. Nach dem Ende seiner Karriere hat er vielleicht eine Toto-Lotto-Annahmen- stelle eröffnet, wurde Turnlehrer oder bekam einen kleinen Aushilfsjob beim FC Bayern. Heute erwartet man von einem Sportler, dass er nebenbei noch ein ganz normales Leben führt. Dass er die Schule, die Hochschule oder eine Ausbildung wie andere meistert, für seine Zukunft sorgt und nebenbei noch ein paar Medaillen für Deutschland gewinnt. Wenn dabei seine Beziehung zu Bruch geht, steht das Fernsehen vor der Tür. Insofern kristallisiert sich in einem Profisportler das Grunddilemma dieser Zeit: der Mensch als Multifunktionsmaschine.

Die Generation, von der Carsten Schlangen spricht, ist nach und nach so geworden wie die Stellenanzeigen, die nach ihr suchen: Jung, berufserfahren, vielseitig, zielgerichtet – alles auf einmal.

So wie Ingmar Geiger.

Berlin Zeitung - Magazin - Die Unentschiedenen - Ingmar Geiger

Mit Geiger trifft man sich am besten sonntagabends, in dem schmalen Freizeit-Abschnitt zwischen der alten und der neuen Arbeitswoche. Er sitzt unter dem Vordach eines Kreuzberger Biergartens und versucht, keine nassen Füße zu bekommen. Am Himmel hat sich eine schwarze Riesenqualle formiert, die meisten Menschen sind deshalb nach Hause geeilt. Geiger aber ist nicht jemand, der sich von einem Sommergewitter aus der Ruhe bringen lässt. Seine Jacke passt zu seinen blauen Augen, seine warme Stimme zu seinem weich geschnittenen Gesicht, sein Lebenslauf zu dieser Zeit.

Ohne längere Vorrede beginnt Geiger von seinem Leben zu erzählen, und schon nach wenigen Minuten wundert man sich, wie das alles in 31 Lebensjahre passt: Einser-Abi am Bodensee, Friedensdienst in Irland, Wirtschaftsingenieurstudium in Berlin, Doppeldiplomabschluss in Paris. Dazwischen nimmt er an mehreren Jugend-Weltmeisterschaften im Segeln teil, läuft Marathon-Rennen, singt sich in den Studienchor. Als er seine Promotion über Vermarktungsverhandlungen beginnt, ist er 26. Drei Jahre später wird er Unternehmensberater bei Roland Berger, reist durch die Welt, lebt in Hotels, fährt ein großes Auto, verdient mehr Geld, als er ausgeben kann. “Eine große Unternehmensberatung war das logische Ende meines Ausbildungsweges”, sagt Geiger.

Vor einigen Wochen hat Ingmar Geiger seinen Job gekündigt. Er hatte ein besseres Angebot. Die Freie Universität Berlin hat ihn zum Junior-Professor berufen.

Natürlich entspricht jemand, der mit 31 Jahren in der Lage ist, einen interessanten, gut bezahlten Arbeitsplatz zu kündigen, nicht dem Bundesdurchschnitt. Natürlich klingen die Probleme von Carsten Schlangen und Ingmar Geiger wie ein Jammern auf sehr hohem Niveau. Dennoch sind Schlangen und Geiger Teil einer rasant wachsenden Gruppe von Menschen, denen Arbeit alleine nicht mehr ausreicht. Arbeit ist für sie eine Mischung aus Broterwerb und Zeitvertreib. Und die Erfindung des Laptops hat die Grenzen von Büro und Privatleben aufgeweicht. Man kann jetzt überall arbeiten: Im Zug, im Café, im Schwimmbad, im Schlafzimmer, im Urlaub.

Manche nennen das die digitale Bohème. Nur hat diese Bohème im Unterschied zu früheren Bohemiens verlernt, was das Wort Feierabend bedeutet. Wenn sie nicht im Dienst ist, ist sie auf Abruf. Rund elf Stunden am Tag verbringt ein Unternehmensberater wie Geiger mit Excel-Tabellen, Powerpoint-Präsentationen, Conference-Calls und Business-Class-Flügen.

Man kann die jungen Menschen von heute in zwei Gruppen einteilen. Die einen haben zu wenig Arbeit, die anderen haben zu viel. Das Resultat ist ähnlich: Sie hören nicht mehr auf, darüber zu reden.

Geiger wünscht sich, manchmal mehr für den Augenblick zu leben und nicht immer daran zu denken, wie es weiter geht. Es ist komisch, das von jemandem zu hören, der mit 31 schon so ziemlich alles erreicht hat. Es ist eine Zukunftsangst, die nicht daher rührt, das Falsche zu tun. Sondern daher, etwas Besseres zu verpassen.

Wenn Ingmar Geiger über Glück nachdenkt, dann ist sein erster Reflex: Freiheit. Weniger Arbeit, weniger Termine und “machen zu können, was man will”. Wenn er noch einmal in sein Bierglas schaut und ein bisschen länger nachdenkt, dann fällt ihm ein, dass womöglich auch das Gegenteil stimmen könnte. Weil unbegrenzte Freiheit ja auch viel mehr Verantwortung erfordert. “Manchmal wäre es schön, einfach so mitschwimmen zu können”, sagt er.

Mitschwimmen kann man nur, wenn jemand die Strömung vorgibt. Es ist nicht auszuschließen, dass all die Generationsbeschreibungen, Lieblingslisten (Die zehn besten Lieder mit einem Städtenamen im Titel) und Online-Psychotests (Welcher Weintyp bist du?, Welcher Diktator passt am besten zu dir?) auch deshalb so hoch im Kurs stehen, weil wir es hier mit einer Generation zu tun haben, die in einen wohltemperierten Swimmingpool namens Leben gefallen ist und nicht weiß, wohin sie schwimmen soll.

Ingmar Geiger ist in jungen Jahren einfach mal losgekrault. Er ist jemand, der das, was die moderne Leistungsgesellschaft von einem jungen Menschen erwartet, in jeder Hinsicht erfüllt. Daneben gibt es aber auch Leute wie Damian Rebgetz, die sich dieser Logik aus Prinzip verweigern. Rebgetz lebt so vor sich hin. Er hat wenig Geld, keinen geregelten Alltag, keinen Masterplan. Er ist Geigers Gegenthese. Heraus gekommen ist in beiden Fällen dasselbe: mehr Fragen als Antworten.

Berliner Zeitung - Magazin - Die Unentschiedenen - Damian Rebgetz

Rebgetz kauert hinter einem runden Aquarium, aus dem allerlei Kabel für Mikrofone und Lautsprecher wachsen. Eine Luftpumpe leistet ganze Arbeit, das Wasser sprudelt wie ein Thermalbecken für Rheumakranke. Die kleinen Unterwasser-Lautsprecher schießen ein Lied der Doppelschlagzeug-Kombo The Melvins in die blubbernde Suppe, die Mikrophone wiederum schnappen das Geräusch der Heavy-Metal-Soundblasen auf und verteilen es in dem kleinen Tonstudio in Berlin-Charlottenburg. “Aqua-Peizo-Plant” hat Rebgetz seine Unterwasser-Klangskulptur genannt. Er sagt: “Das Problem mit der Kunst ist, dass man lernen muss, Dinge für sich selbst zu machen. Du weißt nie, ob du gerade an etwas Genialem oder an etwas Banalem arbeitest.”

Es ist etwa drei Jahre her, als sich Damian Rebgetz, 30, entschieden hat, keinen konventionellen Beruf zu ergreifen. Er wusste, dass man von Kunst nur selten leben kann und nur ganz selten reich wird. Aber hatten die Lehrer ihm und seinen Klassenkameraden nicht erzählt, man solle im Leben immer das tun, was man am besten kann? Rebgetz sagt: “Das Einzige, worüber ich mir wirklich sicher bin, ist dass ich eine gute Stimme habe.”

Also wurde er Sänger, Liedermacher, Komponist. Er hat in den zurückliegenden Jahren um die fünfzig Stücke geschrieben. Über sich. Über die Stadt. Über sich in dieser Stadt. Es gibt immer wieder Leute, die ihm bescheinigen, er habe großes Talent. Verdient hat er damit noch keinen Cent.

Deshalb versucht Rebgetz nun, sich ein zweites Standbein als Kabelkünstler aufzubauen. Gerade arbeitet er an einer Performance für das Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Er wird sich in ein Kabelkleid einwickeln lassen, eine Art Poncho aus Kupferdraht, dann wird er damit die Spree durchschwimmen – als lebender Klangorganismus, als Teil des Kunstwerks. Die Berliner Wasserschutzpolizei muss für einige Minuten die Spree-Schifffahrt sperren.

Rebgetz lebt seit zwei Jahren in Berlin. Er stammt aus Brisbane, Australien. Sein Vater ist Arzt geworden, weil er gut in der Schule war. Seine Mutter wurde Lehrerin, weil sie keine andere Idee hatte. Damian Rebgetz hat gar keinen Beruf. Bis 2005 studierte er in Sydney Klassische Musik und Theater. Dann starb seine Tante. Sie vererbte ihm und seinen beiden Brüdern jeweils eine fünfstellige Dollar-Summe. Einer der Brüder kaufte sich ein Haus. Der andere legte seinen Teil in Aktien an. Damian Rebgetz ging nach Berlin und verlebte das Geld. Einfach so, jetzt und hier in der Gegenwart. Ohne an die Zukunft zu denken. Ein Jahr hat es gedauert. Dann war alles weg. Verpufft, wie die Blasen in seinem Aquarium. Rebgetz sagt: “Das war die beste Entscheidung meines Lebens.”

Sich treiben lassen. Einfach dahin gehen, wo die Dinge dich tragen. Der Sportler Carsten Schlangen und der Unternehmensberater Ingmar Geiger träumen von solch einem Leben. Damian Rebgetz hat es – und könnte daran manchmal verzweifeln. “Es ist in dieser Gesellschaft nicht wirklich akzeptiert, einfach drei Tage zu Hause zu sitzen, um ein Lied zu schreiben”, sagt er. Weil es eben nicht akzeptiert ist, Dinge zu tun, bei denen zumindest die Chance besteht, dass sie zu keinem konkreten Ergebnis führen könnten.

Der Australier Rebgetz sagt, dass solch ein Lebenswandel ohnehin nur in Berlin möglich sei. Weil die Mieten im weltweiten Großstadtvergleich geradezu unverschämt billig seien. Weil ein Pott Kaffee an der Ecke ein Euro koste und die Möbel für Selbstabholer kostenlos auf der Straße ständen. Für Leute, die auf ihre Würde keinen gesteigerten Wert legten, gebe es außerdem allerlei Nebenjobs, um sich ein Künstlerleben zu finanzieren. Rebgetz hat es zunächst in einer Agentur für Tourismus-Führungen am Brandenburger Tor versucht. Deutsche Geschichte in Kurzform, leicht verständlich und zugespitzt. Später jobbte er aushilfsweise als Englisch-Lehrer im Kindergarten und sang bewindelten Dreijährigen “Now it’s time for English, English, English” vor. Inzwischen putzt er Toiletten in einer Jugendherberge. Er sagt, er könne da am besten abschalten.

Von der sogenannten Krise will Rebgetz nichts wissen. Er spürt sie nicht. Weil sie für ihn kein Anfang und kein Ende hat. Er ahnt inzwischen, dass die Krise das Leben selbst sein könnte. Er sagt: “Ich bewundere Menschen, die die meiste Zeit ihres Lebens dort verbringen, wo sie eigentlich nicht sein wollen.” An einem festen Arbeitsplatz, auf der immergleichen Fernsehcouch, im Ehebett. Das klingt kokett, aber nicht ironisch. “Ich vermisse ein wenig von dieser langweiligen Routine in meinem Leben”, sagt Damian Rebgetz. Routine hat für ihn auch etwas mit Sicherheit zu tun.

Berliner Zeitung - Magazin - Die Unentschiedenen - Claudia Kahrs

Für Claudia Kahrs ist Routine eine Art Überlebensstrategie. Kein Job ist so zeitraubend wie ihrer. Er dauert 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Kernarbeitszeit zwischen 6 und 21 Uhr. Claudia Kahrs ist 29 Jahre alt – und Mutter von drei Söhnen. Beim ersten war sie 23, beim zweiten 25, mit dem dritten hat sie gerade zum ersten Mal Geburtstag gefeiert.

Sie sagt, bis zum Vordiplom sei ihr Leben eigentlich ganz normal verlaufen. Hin und wieder ging in ihrer Studenten-WG am Görlitzer Park der Toaster in Flammen auf. Ansonsten der übliche Multioptions-Alltag. Kahrs besuchte Psychologie-Vorlesungen an der TU-Berlin, kellnerte nebenbei in einer Kneipe, reiste in den Semesterferien durch Marokko oder Russland, meldete sich für ein Auslandssemester in Melbourne an. Dann, im Herbst 2002, wurde alles anders. “Da habe ich Roman kennen- gelernt. Und dann bin ich schwanger geworden.”

Claudia Kahrs und ihr Freund haben damals beschlossen: “Okay, wir kriegen jetzt das Kind. Dumm gelaufen. Aber dann gehen wir eben zusammen ins Ausland.”

“Wir wollten das Kind, aber zu sehr einschränken wollten wir uns deswegen auch nicht”, sagt Kahrs. Auch sie haben sich in gewisser Weise für ein Doppelleben entschieden. Jungen Eltern geht es nämlich auch nicht viel anders als jungen Künstlern, Unternehmensberatern oder Sportlern. Sie haben keine Lust, für das, was sie machen, auf etwas anderes zu verzichten. Erfolgreiche Leichtathleten sehnen sich nach einem ordentlichen Beruf, erfolgreiche Berufsanfänger sehnen sich nach Freizeit, erfolgreiche Freizeitkünstler sehnen sich nach ein wenig Routine und routinierte Eltern wollen am liebsten so bleiben wie alle anderen. Und nebenbei wollen sie natürlich auch noch bessere Eltern sein, als ihre Eltern es gewesen sind. Sie kochen den Getreidebrei selbst, sie kaufen Stillkissen mit Dinkel-Hirse-Füllung, sie sind enttäuscht, wenn das Babyschwimmen ausfällt. Auf so manchem Spielplatz in Berlin trifft man inzwischen ebenso viele Erwachsene wie Kinder. Claudia Kahrs sagt: “Elternsein ist zeitaufwändiger geworden.”

Sie sitzt mit grüner Bluse, zerrissener Jeans und Handtasche unter einem großen Klettergerüst, von dem wild kreischende Kinder herabhängen. Bälle fliegen durch die Luft, Holzschwerte werden geschwungen, Mädchen und Jungen suhlen sich in einer braunen Sandsuppe. Wie bei teuren Autos, wo das Radio mit zunehmender Geschwindigkeit lauter wird, hebt manchmal Kahrs’ Stimme an, um die Aaaaaahhhs, Kuckmaaaaaas und Mamaaaaas ihrer Söhne zu übertönen. “Ich glaube man kann mit Kindern alles machen”, sagt sie. “Man muss sich nur viel mehr organisieren

Als für sie und ihren Freund Roman 2006 der Erasmus-Austausch in Valencia begann, war schon das zweite Kind da. Kahrs ist zweimal nach Spanien geflogen, um einen Kindergarten und eine Wohnung zu finden. Beim dritten Mal hat sie die Kinder mit ins Flugzeug gepackt, ihr Freund ist mit einer Matratze auf dem Autodach hinterhergefahren. In Valencia haben nicht nur Kahrs und ihr Mann, sondern auch ihre Kinder Spanisch gelernt. Heute besuchen sie in Berlin einen spanischsprachigen Kindergarten. Eltern, die auf nichts verzichten können, wollen auch ihren Kindern möglichst viel bieten.

Claudia Kahrs findet, dass es eigentlich keine bessere Zeit gibt, um drei Kinder zu bekommen als während des Studiums. “Ich muss nicht vierzig Stunden arbeiten, sondern kann auch zehn Stunden was für die Uni machen. Das geht beides so ein bisschen nebenher.” Kahrs hat dreimal die wohl größte Entscheidung getroffen, die man in einem jungen Leben treffen kann. Sie sagt: “Irgendwie ist es so passiert und so ist es dann irgendwie auch ganz gut.”

Der Zwang zur Flexibilität ist vielleicht die größte Herausforderung, der sich die Generation von Schlangen, Geiger, Rebgetz und Kahrs ausgesetzt sieht. Es ist die letzte Generation, die ohne eigene E-Mailadresse achtzehn wurde, und es wird möglicherweise die erste sein, die nicht mehr genug Öl, Wasser und Rente hat. Sie sind digitale Immigranten, deren Lebenswirklichkeit ganz anders geworden ist, als man es ihnen in der Schule vorhergesagt hat. Über ihre Zukunft wissen sie nichts, außer dass es auf diese Weise nicht bis zum Ende ihres Lebens weitergehen kann. Kahrs sagt: “Wir haben gelernt, dass man immer wieder umplanen muss. Immer neue Optionen einbeziehen soll.”

Sie hat ein Vordiplomkind, ein Diplomarbeitskind und ein Arbeitskind in ihr Leben eingebaut. Beim ersten Sohn war für ihre Freunde und Bekannten noch jedes Bäuerchen aufregend. Jeden Tag kam jemand zu Besuch, sie konnte gar nicht so viele Spaziergänge machen wie sie Mitspazierer hatte. Das zweite Kind kam zu einer Zeit auf die Welt, als die anderen ihre Diplomarbeit schrieben. Da kam mal ab und ab jemand zum Mittagessen vorbei, musste dann aber gleich wieder dringend in die Bibliothek. Beim dritten Sohn arbeiteten bereits alle und eigentlich hat kaum jemand mitbekommen, wie er Laufen gelernt hat. “Da merkt man”, sagt Claudia Kahrs, “wie es bei den anderen weitergegangen ist.”

Bei ihr geht es jetzt erst einmal mit einem Zahnarzttermin für den kleinen Jakob weiter. Es ist gar nicht so einfach, vom Spielplatz aufzubrechen, wenn man eigentlich schon zu spät dran ist – bis alle Hosen grob entsandet sind, bis die letzte Nase gewischt ist, bis jeder einen Fahrradhelm auf dem Kopf hat. Kahrs spürt im Moment, dass sie den Widerspruch zwischen den Anforderungen an eine Dreifachmutter und den Wünschen einer jungen ambitionierten Frau irgendwann wieder auflösen will. Sie sagt, sie höre gerne zu, wenn ihre kinderlosen Freundinnen von ihren Jobs erzählen. “Ich habe keine Ahnung, wie ein Unternehmen funktioniert, aber das will ich irgendwann schon mal wissen.”

Welches Unternehmen das sein könnte, weiß Claudia Kahrs allerdings noch nicht. Wie die meisten Menschen in ihrem Alter, kann sie sich für viele verschiedene Sachen begeistern. Sie sagt: “Vielleicht ist es gar nicht so blöd, dass alle anderen vor mir fertig sind.” Die können dann schon mal ausloten, was es so gibt.

Zum Artikel im Originalformat (PDF)


No Comments so far.

Leave a Reply