Am Sonntag ist es 100 Tage her, dass Carsten Schlangen von der LG Nord bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Barcelona Zweiter über 1500 Meter wurde. Auf der Zielgerade überholte er im Olympiastadion noch einige Konkurrenten und musste sich nur knapp dem Spanier Arturo Casado geschlagen geben. Es war sicherlich eine der überraschendsten Medaillen für die Mannschaft des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Der 29-jährige Schlangen, in Meppen im Emsland geboren, studiert in Berlin an der Technischen Universität Architektur.
Berliner Morgenpost: Herr Schlangen, wie haben Sie die 100 Tage seit Ihrem Coup bei der EM erlebt?
Carsten Schlangen: Die ganze Sache ist bei mir schnell in den Hintergrund gerückt, weil ich mich gleich nach der EM zwei Monate lang ganz auf meine Diplomarbeit fokussiert habe.
Berliner Morgenpost: Keine Zeit zum Genießen?
Carsten Schlangen: Ja schon, aber nur sehr kurz. In Berlin habe ich mit meiner Trainingsgruppe und meinen Nachbarn im Hinterhof gefeiert. Es war eine Stimmung wie bei WM-Spielen der deutschen Fußballmannschaft. Auch in meiner Geburtsheimat im Emsland wurde ich herzlich empfangen und es wurde kräftig gefeiert. Aufgrund der Wettkämpfe nach der EM und der Diplomarbeit war der Zeitraum der Feierlichkeiten aber beschränkt.
Berliner Morgenpost: Sind Sie denn mit Ihrer Diplomarbeit rechtzeitig ins Ziel gekommen?
Carsten Schlangen: Am Ende habe ich noch einmal richtig Gas gegeben und meine Schlussspurt-Mentalität genutzt.
Berliner Morgenpost: Wie im EM-Endlauf.
Carsten Schlangen: Stimmt.
Berliner Morgenpost: Wann war letzter Abgabetermin?
Carsten Schlangen: Am 1. November um 12.30 Uhr.
Berliner Morgenpost: Und wann haben Sie Ihr Werk abgegeben?
Carsten Schlangen: Ganz ehrlich, der Besenwagen war bereits unterwegs. Im Prüfungsamt wurden schon keine Wartezettel mehr ausgeteilt.
Berliner Morgenpost: Ihr Architekturstudium hat sich in die Länge gezogen, Sie haben auch Urlaubssemester genommen. Was hat Sie mit Blick aufs Studium und den späteren Beruf Ihre Sportkarriere gekostet?
Carsten Schlangen: Drei, vier Jahre wird das schon ausgemacht haben. Aber kann man diese Frage überhaupt stellen? Ich denke, es hat mich nichts gekostet. Ich habe ja keine Zeit vergeudet, sondern diese Jahre intensiv genutzt und eben sportlich hart gearbeitet. Deshalb später in den Beruf einzusteigen, sollte in Ordnung sein. Überhaupt, einer Leidenschaft nachzugehen, die nur während einer bestimmten Zeit des Lebens möglich ist, sollte in unserer heutigen Vita-orientierten Leistungsgesellschaft mehr akzeptiert werden.
Berliner Morgenpost: Viele Ihrer ehemaligen Studienkollegen dürften schon im Berufsleben stehen, beunruhigt Sie das nicht?
Carsten Schlangen: Nein. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich seriös der Architektur nachgehen, das ist eine Sache, die mir sehr, sehr viel Spaß macht.
Berliner Morgenpost: Sie bleiben also Leistungssportler.
Carsten Schlangen: Die Olympischen Spiele in London 2012 sind mein Ziel, auch die WM 2011 in Daegu ist interessant. Aber ich möchte im nächsten Jahr auch meinen Berufseinstieg angehen. Vielleicht findet sich ein Architekturbüro in Berlin, das mich unterstützt und in dem ich in Teilzeit arbeiten kann.
Berliner Morgenpost: Hat Ihnen Ihr EM-Silber denn neue Sponsoren beschert?
Carsten Schlangen: Es sind ein paar Kooperationen in Vorbereitung. Vielleicht gibt es bald eine verstärkte Unterstützung aus dem Emsland, wo mich lokale Unternehmen im Hinblick auf die Olympischen Spiele in London fördern. Eventuell ergeben sich auch in Berlin solche Kooperationen. Ich bin ja schon seit zehn Jahren Berliner. Manchmal ist das in der Stadt vielleicht noch nicht so richtig angekommen.
Berliner Morgenpost: Hat sich durch Barcelona für Sie etwas verändert?
Carsten Schlangen: Ich werde von mehr Menschen wahrgenommen als vorher. Manche verfolgen jetzt ganz genau, was ich als Sportler mache. Die Fanpost hat massiv zugenommen, es gibt viele Anfragen, wie ich trainiere, etliche wollen Tipps von mir haben. Diese gesteigerte Wahrnehmung freut mich sehr.
Berliner Morgenpost: Die EM-Medaille war der bisherige Höhepunkt in Ihrer Karriere, was kann denn da überhaupt noch kommen? Wofür laufen Sie weiter?
Carsten Schlangen: Eine Endlaufteilnahme bei Olympischen Spielen würde ich fast so hoch einschätzen wie die EM-Medaille. Auch wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, dass eine solche Leistung in der Öffentlichkeit eher untergeht, denn bei den Spielen 2008 in Peking haben 17 hundertstel Sekunden zum Finale gefehlt. Ich glaube schon, dass es Leistungspotenziale gibt, die ich noch nicht ausgeschöpft habe. Gute Final-Platzierungen bei den Spielen oder bei einer WM sind nicht völlig aus der Welt.
Berliner Morgenpost: Tauchen die Bilder Ihres Silberlaufes bei Ihnen im Geiste noch auf?
Carsten Schlangen: Schon, aber manchmal kann ich mich kaum richtig erinnern. Durch die Aufregung ist alles sehr bruchstückhaft. Meine Freundin und ich wollen deshalb ganz bewusst das 100-Tage-Jubiläum genießen und feiern. Dann schauen wir uns gemeinsam das Video vom Finale in Barcelona an. Vielleicht verstehe ich dann, was da passiert ist.