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Eilen, nicht hetzen

30 August 2012

Der schnellste deutsche Mittelstreckenläufer Carsten Schlangen will beim Istaf keine Normen mehr jagen.

Das Istaf wird eine lockere Angelegenheit, Carsten Schlangen freut sich schon. „Es wird ein schnelles Rennen“, sagt er. Die Atmosphäre im Olympiastadion ist auch gut, außerdem startet Schlangen für die LG Nord Berlin. Das größte deutsche Leichtathletik-Meeting (Sonntag, 12 Uhr) ist quasi ein Heimspiel für ihn. Außerdem hat er ja keinen Druck. Die Olympischen Spiele, Highlight der Saison, sind vorbei, niemand fragt nach seiner Zeit. Ein schöner Ausklang der Saison. Ein paar Tage später wird der Architekt Schlangen wieder im Büro sitzen, mindestens vier Stunden am Tag, und sich um Projektmanagement kümmern.

Aber noch später, in der neuen Saison? Was wird dann passieren? Schlangen sitzt an einem Tisch in seiner Wohnung, er sinniert über diese Frage.

Dann entwickelt er bedächtig „revolutionäre Gedanken“. Er sagt wirklich „revolutionär“.

Die gedankliche Revolution des Carsten Schlangen steckt in den Sätzen, die er langsam, fast nachdenklich sagt: „Das Ziel im nächsten Jahr ist nicht mehr die Teilnahme am Höhepunkt, in diesem Fall die WM, sondern eine gute Saison mit schönen Rennen. Wenn dabei die WM-Qualifikation abfällt, ist das okay.“ Und: „Was ist schon ein WM-Rennen? Es gibt viele Rennen.“ Oder: „Ich muss nicht bei jeder deutschen Meisterschaft gewinnen, bei der ich antrete. Vielleicht sollte ich mal Rennen bei deutschen Meisterschaften als harte Trainingsläufe betrachten.“

Carsten Schlangen hat, anders gesagt, die Nase gestrichen voll von dieser Jagd nach Normen. Drei Meter neben ihm steht in einem Wandregal ein Foto von seinem größten Erfolg. Schlangen mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht zu einem glücklichen, erschöpften Lächeln verzogen. Der Moment, in dem er die Silbermedaille über 1500 Meter bei der Leichtathletik-EM 2010 gewonnen hat. Damals hatte ihn die Jagd nach Normen wenig belastet, er wurde ja belohnt für die Hatz.

2012 in London schied er im Halbfinale aus; auf den letzten 200 Metern fehlte ihm die Kraft, um einen Finalplatz zu erreichen. „Ich hatte mich zwischen Vorlauf und Halbfinale nicht genug erholt“, sagt der 31-Jährige, „da hat Training gefehlt.“

Das Training hatte wegen der Jagd nach der Olympianorm gefehlt, der Kreis schließt sich. Carsten Schlangen qualifizierte sich erst im letzten Moment für London: In Bottrop lief er glanzvoll 3:33,64 Minuten, damit blieb er fast zwei Sekunden unter der Norm. Seit 15 Jahren war kein deutscher Mittelstreckler so schnell wie Schlangen. Aber er hatte keine Zeit mehr, sich vernünftig auf London vorzubereiten. Er hatte serienweise Rennen absolviert, immer mit dem einen Ziel: Er wollte diese verdammte Olympia-Norm. Er lief auch mal in New York, „das war der verzweifelte Versuch, die Norm zu schaffen“, sagt Schlangen. Der Trip nach New York „hatte etwas Aktionistisches“, am Ende war er drei Sekunden zu langsam. „Mit jeder verpassten Norm wusste ich, dass ich wieder Zeit verloren habe.“ Andererseits: „Wenn ich die Norm nicht erreicht hätte, dann hätte ich an meiner Leistungsfähigkeit gezweifelt“, sagt Schlangen.

Aber was hat sie ihm gebracht, die Norm? Er war in London, das schon. Aber er lief ja unter einem enormen Erwartungsdruck. Er lief als Vize-Europameister von 2010, das ist jetzt sein Label. Dass in zwei Jahren viel passieren kann, spielt da kaum eine Rolle. Ein Halbfinal-Aus gilt bei so einem als Enttäuschung.

Schlangen ist selbst enttäuscht, er hatte auch das Finale als Ziel. Andererseits wehrt er sich nachgerade trotzig gegen Vorwürfe. „Wer in Deutschland ist denn in den letzten Jahren schon 3:33 Minuten gelaufen?“, sagt er heftig. Wer, außer Carsten Schlangen? Und 2011, in Paris? „Da bin ich 3:35 gelaufen, obwohl ich fast gestolpert wäre.“ Gut, Olympia ging schief. Aber nicht die ganze Saison. „Ich habe aus dieser Saison mitgenommen, dass ich im guten Trainingszustand in einem absoluten Weltklassefeld mithalten kann.“

Es geht nur um die Frage: Wie gelingt ihm das am besten? Indem er sich selbst den Druck nimmt, sagt er jedenfalls. „Ich möchte mich in Rennen nicht mehr bloß nach hinten fallen lassen, ich will auch mal Risiko eingehen.“ Die erfüllte WM-Norm gilt als nette Beigabe. Das klingt abgeklärt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Dass er bei guten Rennen die Norm automatisch erfüllt, ist schon Teil des Kalküls, das sagt er schließlich doch.

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Mein Kommentar zum Artikel:

Im Grunde genommen ist es mir egal, ob meine Gedanken nun als revolutionär, interessant oder seltsam empfunden werden. Fest steht: Ich möchte mich nicht mehr von der Jagd nach Normen für Einsätze im Nationaltrikot vereinnahmen lassen. Die Erreichung der Norm kann und darf nicht Höhepunkt einer Leichtathletiksaison sein – was de facto für viele deutsche Läufer/innen in diesem Jahr zutreffend ist. Die Freude am Laufen und am Wettkampf soll für mich wieder mehr im Vordergrund stehen. Ich bin mir sicher, dann kommt die Norm und vielleicht noch mehr ganz nebenbei…