Die Wirklichkeit im Traumland

Die Wirklichkeit im Traumland - Ein Beitrag der Süddeutschen zur Leichtathletik Olympia 2008 Bild: Getty

Carsten Schlangen blickte die mächtigen Tribünen empor. Er ließ den Blick über die vollen Ränge hinauf zu der Flamme schweifen, die aus einer riesigen Fackel über dem Stadionrand loderte. Er ließ die Atmosphäre auf sich wirken, die voll war mit Musik und Lärm, und er merkte, wie sein Herz höher schlug, wie ihn verwirrende Gedanken anflogen. Ich, Carsten Schlangen aus Berlin, Architektur-Student und 1500-Meter-Läufer, bin Teil dieser gewaltigen Inszenierung? Er kannte Olympia bis dahin nur aus dem Fernsehen als entfernte Traumlandschaft des großen Sports. Jetzt, da er mittendrin stand, überwältigte sie ihn. Aber dann kam sein Vorlauf, und die Wirklichkeit holte ihn ein. Das Tempo war hoch, er hatte zu kämpfen und rettete sich knapp in die nächste Runde mit einer guten Zeit von 3:36,34 Minuten. Wenig später hing er erschöpft über einem Geländer in der Interviewzone und berichtete von den Härten in der strahlenden Olympia-Arena: „Ich habe gleich gesehen, dass es abgeht in dem Rennen."

Wie eine prachtvolle, bunte Bühne liegen Feld und Bahn im Pekinger Vogelnest vor dem Publikum. Alles ist groß, alles ist schillernd, alles ist aufgeladen mit künstlicher Bedeutung, und es gibt keinen Zweifel, dass die Mythenfabik des Sports hier wieder ein paar denkwürdige Episoden für die olympischen Geschichtsbücher hervorbringen wird. Aber die Wirklichkeit ist natürlich auch noch da, trotz allem Tand, und die sieht ein hartes Stück Arbeit vor für die Deutschen Leichtathleten im Kampf um Erfolg und Auf merksamkeit daheim. Schillernd ist zunächst einmal gar nichts an ihnen, es gibt nur ein paar aussichtsreiche Teilnehmer in der Mannschaft, und ansonsten die Hoffnung im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), dass die Zuschauer Verständnis aufbringen, wenn es Niederlagen gibt im rettungslos beschleunigten Olympia-Wettbewerb.

Schon der erste Tag im Vogelnest hat die deutschen Perspektiven zurechtgerückt. Diese internationale Leistungsgesellschaft verzeiht keine Schwächen. Es reicht nicht, gut zu sein wie die Potsdamer 3000-Meter-Hindernisläuferin Antje Möldner, 24, die ein beherztes Rennen zeigte, in 9:29,86 Minuten einen deutschen Rekord aufstellte und dennoch im Vorlauf ausschied. Unter anderem gegen die weit vorauseilende russische Weltre-kordlerin Gulnara Galkina-Samitowa, in deren Verband es zuletzt eine spektakuläre Affäre mit fünf wegen Manipulation suspendierten Olympia-Nominierten gab. Was sollte Antje Möldner dieser Frau entgegensetzen? Sie hatte alles richtig gemacht, da durfte nicht stören, dass sie das Finale verpasst hatte. Sie jubelte zu Recht: „Es ist einfach zu schön."

Es gab gleich erste Enttäuschungen. Der Leipziger Kugelstoßer Peter Sack, Bestleistung 21,19 Meter, schaffte es am Freitagmorgen nicht, binnen drei Stößen die Qualifikationsweite von 20,40 Metern zu übertreffen. Am Ende fehlten ihm auf seinem 13. Rang mit seinen 20,01 Metern läppische zwei Zentimeter für einen der zwölf Finalplätze. Und 100-Meter Sprinter Tobias Unger lief auch nicht im Bereich seiner Bestleitung (10,16). Mit 10,46 Sekunden überstand er um ein paar Tausendstelsekunden die erste Runde, im Viertelfinale war er dann chancenlos mit braven 10,36.

Da brauchte man keine Verschwörungstheorien zu bemühen, beide wussten, dass sie sich besser hätten präsentieren können. Und dennoch beschlich sie eine kleine Resignation, die nicht von Ungefähr kommen konnte. „Es wäre halt traurig, wenn sie jetzt einen erwischen", sagte Peter Sack. Ein solcher Dopingfall würde ihn nämlich nachträglich doch auf den ersehnten Finalplatz bringen. Ob er glaube, dass jemand erwischt werde? „Ich hoffe es inständig." Mehr sagte Peter Sack nicht, aber das reichte schon, um zu wissen, dass sein Szenewissen einen konkreten Verdacht ergeben hatte. Wenige Stunden später brach dann polnischer Jubel um einen bärtigen Hünen los: Tomasz Majewski wurde etwas überraschend Olympiasieger im Kugelstoßen.

Tobias Unger betrachtete aus der Distanz, wie die Sprintfavoriten sich gaben. Der amerikanische Dreifachweltmeister Tyson Gay wirkte nach überstandener Verletzung nicht ganz so spritzig wie sonst bei seinen Vorläufen. Der WM-Dritte Asafa Powell, Bestzeit 9,74, steuerte ohne viel Theater ins Halbfinale, und Weltrekordler Usain Bolt rannte im Viertelfinale 9,92 Sekunden, obwohl er auf den letzten Metern fast stehen geblieben war. Feixend marschierten Bolt und Powell kurz darauf durch die Interviewzone. Sie fühlen sich sehr sicher vor dem großen Finale diesen Samstag. Tobias Unger lächelte ohnmächtig. „Dazu sage ich nichts mehr", sagte er.

Überraschung im Siebenkampf

Und selbst Carsten Schlangen, dessen erster olympischer Wettkampftag als Erfolg endete, wunderte sich. Er hatte Rashid Ramzi aus Bahrain in seinem Vorlauf gehabt, den Doppelweltmeister von Helsinki 2005. Ramzi ist diese Saison nicht zu sehen gewesen, in der Welt Jahresbestenliste ist von ihm keine Spitzenleistung vermerkt. Jetzt preschte er voraus, ohne lange zu taktieren. 3:32,89 Minuten. „Naja okay", sagte Carsten Schlangen, „schon beeindruckend."

Sie werden den Blick von den Gegnern und der imposanten Kulisse abwenden müssen und versuchen, mit Anstand aus dieser wilden Show herauszukommen. Auch wenn es schwer fällt, wie den Siebenkämpferinnen, denen ebenfalls eine Niederlage mit Nebengedanken droht. Jennifer Oeser liegt auf Platz zwölf nach vier Disziplinen, die EM-Zweite Lilli Schwarzkopf auf 14, Sonja Kesselschläger auf 17. Es führt mit 4060 Punkten die Amerikanerin Hyleas Fountain, 27, eine unscheinbare WM-Abbrecherin von 2007. Sie erlebt eine Saison voller Bestleistungen, am Freitag stellte sie gleich drei auf. Sie war ziemlich abgebrüht für eine Olympia-Novizin.

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