„Ich weiß nicht, was passiert ist"

 Carsten Schlangen erschöpft beim Europacup in MünchenCarsten Schlangen fühlt sich als Sündenbock und erfährt Solidarität.

Streicheleinheiten nach dem Kollaps

Am Nachmittag war er anscheinend ohnmächtig aus dem Zielraum des Münchner Olympiastadions getragen worden. Am Abend stand Carsten Schlangen ein wenig verlegen im Paulaner Biergarten am Nockherberg von München, wo die russischen Leichtathletinnen und ihre französischen Kollegen mit allen anderen ihre Siege im Europacup der Nationalmannschaften feierten.

Eigentlich hatte er nicht mitkommen wollen, doch Franka Dietzsch, die Diskuswerferin aus Neubrandenburg, hatte den jungen, schmächtigen Läufer aus Berlin aufgefordert: „Du wirst dich doch nicht auf deinem Hotelzimmer einschließen. Komm mit." Schließlich hätten auch sie etwas zu feiern: die Männer ihren zweiten Platz, die Frauen ihren dritten.

Und dann freute sich der 26 Jahre alte Architekturstudent mitten in dem Trubel aus Musik und Bierdunst darüber, dass er wieder auf eigenen Beinen stehen konnte und wiederholte die Frage: „Habe ich etwas falsch gemacht?" Noch am Morgen hatte er mit Bundestrainer Jürgen Mallow zusammengesessen und die Marschroute für seinen Lauf über 3000 Meter besprochen. Beide waren zuversichtlich. Am Mittwoch war Schlangen in Cottbus die schnellste Zeit eines Deutschen über 1500 Meter in diesem Jahr gelaufen: 3:38,9 Minuten. Auf den 3000 Metern, die ihm nun bevorstanden, hatte er im vergangenen Jahr in Leverkusen eine Zeit von 7:51 Minuten erreicht. Wie sich herausstellen sollte, war das auch die Siegerzeit.
Doch Schlangen war von Bouabdellah Tahri, dem Gewinner des Laufs, weit entfernt, als der Lauf vor dem Publikum im Olympiastadion und an den Fernsehgeräten in ganz Europa zu Ende ging. Als er dem Franzosen an der Spitze einer Verfolgergruppe nachsetzte, spürte er plötzlich, wie seine Muskeln übersäuerten – in den Armen. „Ich war überrascht", erinnerte er sich. „Aber ich habe mir gesagt, manchmal ist es so hart, und wenn man durchhält, platzt der Knoten." Es war nicht der Knoten, der platzte, sondern der Motor des Läufers. Immer eckiger wurden seine Bewegungen, immer verkrampfter rannte er über die in der Mittagshitze glühende Bahn.

Bevor Schlangen aus der Verfolgergruppe zurückfiel, als hätte ihn ein Hammer getroffen, hatte Mallow in dessen Motorik schon das heraufziehende Unglück erkannt. Er schickte einen Arzt ins Ziel. Schlangen kämpfte nur noch darum, auf den Beinen zu bleiben. „Jeden anderen Lauf hätte ich in der Situation aufgegeben", sagte er. „Aber ich habe den Stadionsprecher rufen hören, dass die Franzosen in Führung gehen. Ich habe mir gesagt, dass ich an die Grenze gehen muss und darüber hinaus." Er war deutlich jenseits dieses Limits, als er wie in Zeitlupe um die Überwindung der letzten Meter kämpfte,
gegen seinen eigenen Körper. Da lief auch noch der längst geschlagene Ukrainer My-kola Labovsky an ihm vorbei. Schlangen stürzte wie besinnungslos auf den Rasen im Innenraum. Deutschland bekam einen, Frankreich acht Punkte. Der Sieg war weg.

Zu Erschöpfung und Enttäuschung kam auch die Angst. „Ich weiß bis jetzt nicht, was passiert ist", sagte Schlangen am Abend. „Und ich hatte das Gefühl: Ich bin der Sündenbock." Er wird sich untersuchen lassen, obwohl er ziemlich sicher ist, dass sein Zusammenbruch keine körperlichen Gründe hat. Mallow glaubt, dass die Anspannung in Verbindung mit der Hitze eine Art Kurzschluss auslöste. „Die Anspannung, das Publikum, das Getöse: eine solche Situation wünscht man sich doch", sagt Schlangen. „Eigentlich weiß ich Aufregung für mich zu nutzen." „Niemand aus der Mannschaft wird Carsten einen Vorwurf machen", sagte Mallow nach der Niederlage gegen das punktgleiche Frankreich. „Es war eine große Willensleistung, dass er es bis ins Ziel geschafft hat." Und damit noch einen Punkt rettete.
„Ich hatte Sprüche erwartet", gestand der Läufer im Biergarten und nippte an seinem Mineralwasser. Da hatten die Läuferinnen ihn gerade zum Mannschaftsfoto gerufen und ihm versichert, dass er zu ihnen gehöre. Da hatten ihm Mannschaftskameraden aufmunternd auf die Schulter geklopft. „Das ist die größte Leistung dieses Wettkampfes neben dem Europarekord von Christina Obergföll", sagte Schlangen, „der Zusammenhalt Und der gegenseitige Respekt." 

 

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