Auf Bildungsreise in Göteborg – Überraschung für die Überraschung

Carsten Schlangen läuft zum ersten Mal im Nationaltrikot

FAZ - Auf Bildungsreise in Göteborg (Bild)Die Überraschung war schmerzhaft. In der vorletzten Kurve des 1500-Meter-Laufs schwenkte Carsten Schlangen auf die zweite Bahn und setzte zum Überholen an – und dann war praktisch Schluß. „Ich war ziemlich zuversichtlich, daß ich den achten Platz herauskämpfen könnte“, schnaufte er im Ziel. „Und dann haben auf meinen Antritt gleich fünf, sechs Leute reagiert.“ Hinter neun Konkurrenten kämpfte er sich schließlich über die Linie, taumelte und ging zu Boden; nach 3:42,62 Minuten immerhin, der zehntbesten´Zeit, aber dennoch nicht qualifiziert für den Endlauf der stärksten – und glücklichsten – zwölf der Europameisterschaft an diesem Mittwoch. Der andere Vorlauf war viel langsamer gewesen, doch auch in ihm qualizierten sich die ersten vier.

Carsten Schlangen, ein schlaksiger, jungenhafter Athlet, hat im Ullevi-StadiStadion von Göteborg eine bemerkenswerte Premiere im Nationaltrikot gegeben. Vor zwei Jahren war er noch Hobbyläufer in Niedersachsen. „Das war mein erster internationaler Wettkampf“, sagte er, „und das war das erste Mal, daß ich so richtig einen vor den Bug gekriegt habe.“

Bei der deutschen Meisterschaft des vergangenen Jahres in Wattenscheid attackierte der Newcomer ebenfalls kurz vor der Gegengeraden – und gewann leicht zehn Meter Vorsprung. Lediglich Franek Haschke überholte ihn noch auf den letzten 300 Metern. Schlangen verbesserte seine Bestzeit um sechs Sekunden auf 3:40 Minuten. In diesem Jahr wurde er in Ulm deutscher Meister; seine Bestzeit hat er auf 3:38,04 Minuten gedrückt. Schließlich trainiert er seit zwei Jahren neunmal in der Woche gemeinsam mit Haschke und Jonas Stiefel in Berlin. Das Trio kämpft auf der Mittelstrecke des Cross und auf der Bahn in Deutschland um die Titel.

„Erfahrung“, sagt Schlangen über seinen Auf- und Antritt von Göteborg, „irgendwannmuß man sie halt machen, auch wenn es bitter ist.“ Nachdem er zwei Semester seines Architekturstudiums in Finnland absolviert und mit seinen Eltern eine lange Skandinavien-Reise unternommen hatte, hatte das Nachdenken auf den langen Läufen und in den langen Nächten des Nordens zu dem Ergebnis geführt: „Jetzt mußt du wagen, wovon du schon so lange träumst.“ Im Spätsommer 2004 schloß sich Schlangen der Trainingsgruppe des Berliner Professors Roland Wol bei der LG Nord an.

Als erstes gewann er die Hochschulmeisterschaft. Seitdem ist sein Leben von Training und Wettkampf – und von Überraschungen geprägt. „Man sieht im Training, daß man so gut ist wie die anderen, und das gibt einem Mut im Wettkampf.“ Nun durfte er bei der Europameisterschaft
übermütig werden, während sich seine Trainingspartner in der Schweiz auf das gemeinsame Debüt beim Istaf in Berlin vorbereiten. „Ohne die beiden wäre ich nicht hier“, sagt er. Im vergangenen Jahr waren sie als Besucher im Olympiastadion von Berlin und sagten sich: „Das wäre toll, hier einmal mitzulaufen.“ Zwar wird Schlangen sein Architekturstudium von Herbst an für einige Monate in Rotterdam fortsetzen, doch zur Zeit hat das Laufen Priorität: „Ich würde mich gern noch ein paarmal überraschen.“ Bangemachen gilt dabei nicht. Wie er denn mit den Läufern aus Kenia und Äthiopien mitzuhalten gedenke, muß Schlangen sich fragen lassen, ist doch die Europameisterschaft so etwas wie ein Reservat. „Es ist nicht bis ins letzte Detail bewiesen, daß Schwarze genetische Vorteile haben“, sagt er dazu. „Wie Dieter Baumann, wie Craig Mottram muß man sich die Honung bewahren. Sonst kann man ja gar nicht trainieren.“ Er will beweisen, daß man auch als Deutscher vorn mitlaufen kann.

Die Bildungsreise nach Göteborg wird ihm dabei ein Ansporn sein. „Auf die Zielgerade zu kommen und dieses wahnsinnige Getöse zu hören“, schwärmt er, „das ist ein Moment, den man nie vergessen wird.“ Was die Zufriedenheit, die sich nach dem Verschnaufen einstellt, noch steigert: „Ich bin ja nicht kampos und auch nicht als Letzter ausgeschieden.“ Carsten Schlangen dürfte in Göteborg nicht nur eine Überraschung erlebt haben. Er war eine.

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